
Tromsøya, nördlichstes Norwegen. Im Osten der Insel befindet sich die Universitätsstadt Tromsø, im Norden erstrecken sich Waldgebiete über Höhenzüge, die den Blick auf idyllische Meerengen freigeben. In einer dieser Meerengen, vor der kleinen Insel Håkøya, ragt ein dunkles Rostskelett aus dem Wasser. Es sind die Überreste des größten jemals in Europa gebauten Schlachtschiffs, der "Tirpitz". Im November 1944 sank das von den Nazis gebaute Schiff nach einem britischen Bombenangriff – eine Bedrohung ist es jedoch bis heute.

Das riesige Schlachtschiff war 253,6 Meter lang und 36 Meter breit.
Die Zeit ist der Gegner
Das weiß auch Matthias Brenner. Der Meeresbiologe vom Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven ist Teilnehmer des
REMARCO-Projektes. In der Forschungsgruppe untersuchen Brenner und seine Kollegen, wie sehr die Umwelt - hauptsächlich in Nord- und Ostsee - durch Weltkriegs-Wracks bedroht wird und wie man diese schützen kann.
In vielen Schiffswracks befinden sich noch Treibstoffe und scharfe Munition. Allein in der Nordsee liegen schätzungsweise 1,3 Millionen Tonnen Munition. Diese kann detonieren oder rosten - und so Schadstoffe freisetzen, die die Umgebung verseuchen. "Wir wissen von mehreren Hundert Wracks, die Munition oder Treibstoffreste an Bord haben", so Brenner. Die Dunkelziffer könne allerdings noch höher liegen.
Absehbare Bedrohung auch für Ostseestrände
In der Ostsee vermuten Forschende aktuell 1.000 bis 2.000 Schiffswracks mit Gefahrenpotenzial. Besonders in der Danziger Bucht wurde durch Boden- und Wasserproben rund um Fundorte bereits festgestellt, dass in der marinen Umwelt deutlich weniger Organismen als in unbelasteten Gebieten leben. Laut Brenner drängt es nun. "Viele Schiffe sind durch die Weltkriege mehr oder weniger zum gleichen Zeitpunkt gesunken. Man kann davon ausgehen, dass sie in ein oder zwei Jahrzehnten vielleicht kollabieren werden."

Mit einem Spezialroboter untersuchen die Mitglieder des REMARCO-Projektes die Umgebungen von Schiffswracks.
Der kollektive Verfall und die damit freigesetzten Schadstoffe könnten eine ökologische Katastrophe herbeiführen. Schon jetzt konnten Teammitglieder von Brenner feststellen, dass Fische, die neben munitionsbelasteten Wracks leben, eine erhöhte Rate von Lebertumoren haben. Muscheln sind ebenfalls betroffen.
Und auch für den Menschen sind Treibstoffe und Munitionsreste gefährlich. Phosphor, das in vielen Brandbomben enthalten ist, wurde bereits an Nord- und Ostseestränden gefunden. Die Gefahr: Das hoch entzündliche Material kann von Sammlern leicht mit Bernstein verwechselt werden und für schwere Brandverletzungen sorgen. Außerdem könnte der Verzehr von belastetem Fisch und Meeresfrüchten in Zukunft ebenfalls gefährlich werden.
Wie geht es weiter?
Dass die Schadstoffe auf natürlichem Wege aus der Ostsee entweichen, sei so gut wie ausgeschlossen. "Die Ostsee ist vergleichbar mit einem See, das heißt, es gibt wenig Wasseraustausch. Was also in die Ostsee reinkommt, bleibt auch dort", sagt Meeresbiologe Brenner.
Die Munition auf Wracks müsste also entschärft, und die vorhandenen Treibstoffe abgepumpt werden. Wer rechtlich dafür verantwortlich ist, ist allerdings häufig unklar. Als sogenannter Flaggenstaat gehören Wracks wie beispielsweise die "Tirpitz" zwar Deutschland. Da es vor der norwegischen Küste liegt und zudem in einer kriegerischen Auseinandersetzung gesunken ist, kann die Bundesrepublik juristisch jedoch nicht in die Pflicht genommen werden, sich um das Problem zu kümmern.
Auf dem deutschen Seegebiet gibt es ebenfalls keine klaren Zuständigkeiten. Für akute Notfälle wäre das Havariekommando in Cuxhaven zuständig. Die technischen Voraussetzungen sowie die Infrastruktur, um dabei schnell handlungsfähig zu sein, sind laut Brenner bisher allerdings nicht vorhanden. Eine Behörde, die vorsorglich tätig wird, um Wracks zu entdecken und zu entschärfen, gibt es nicht. "Es gibt hier ein politisches Problem. Im Grunde genommen müsste man jetzt die entscheidenden Vorkehrungen treffen, um sich gewissen Wracks anzunehmen, bevor es technisch unmöglich wird", sagt der Meeresbiologe. Denn mit fortschreitender Korrosion der Wracks werde das sichere Abpumpen von Treibstoffen und die Munitionsbergung immer riskanter.
Forschung und Verantwortung
Noch gibt es keine öffentliche nationale oder europäische Datenbank zu belasteten Wracks. Wie groß das Problem wirklich ist, ist daher unklar. Forscher vermuten, dass vor der deutschen Küste mindestens 120 gefährliche Wracks liegen. Vor der dänischen sollen es rund 240 sein, in Finnland wird sogar von einer Zahl von um die 420 ausgegangen. Brenner wünscht sich auf nationaler Ebene mehr Aufmerksamkeit für das Thema. "Vor allem, weil wir in Deutschland mitverantwortlich sind für die Wracks, die aufgrund der kriegerischen Aktivitäten im Zweiten Weltkriegs gesunken sind."
Das REMARCO-Projekt wird noch bis 2027 gefördert. Bis dahin will Brenner mit seinem Team noch weitere Wracks wie die "Tirpitz" untersuchen. Vor der norwegischen Küste bei Tromsøya konnten sie bereits überraschend hohe Konzentrationen an Sprengstoff finden. Immerhin: Der Bund plant aktuell ein neues Bundeskompetenzzentrum zur Munitionsbergung in Rostock. Weder die genaue Anzahl der neuen Arbeitsplätze noch das konkrete Budget stehen bisher allerdings fest.